Jörg Preuße: Anekdoten

Über das liebe Essen und Trinken

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Eines der schönsten Ereignisse eines Wettkampfes ist das gemeinsame Essen nach dem Wettkampf. Eines der elementarsten Ereignisse aber ist das gemeinsame Essen nach dem Wiegetermin am Abend vor dem Kampftag. Denn in der Regel haben alle Aktiven in den ein oder sogar zwei Wochen vor einem wichtigen Turnier wenig oder gar keine feste Nahrung zu sich genommen. Fast alle Wettkämpfer haben nämlich mit der Schwierigkeit zu kämpfen, das Gewicht für ihre Gewichts-klasse zu erreichen oder zu halten. Wer es mal erlebt hat, wie eine solche ausgehungerte Meute in ein Restaurant einfällt, kann eigentlich nur erahnen, welche Anstrengungen diese Entbehrung kostet.

Die Fahrt zum Länderpokal 1988 ins Saarland gestaltete sich unerwartet schwierig. Wir waren am Freitagmorgen gegen 7.00 Uhr mit einem VW-Bus und einem PKW in Lübeck aufgebrochen. 700 km Autobahn lagen vor uns. Wiegeschluß war um 21.00 Uhr. Ich ging davon aus, daß wir mit 14 Stunden ausreichend Zeit hatten, um die Strecke zu bewältigen. Vom ersten Stau hörten wir bereits vor Hamburg: "25 km stehender Verkehr bis Stillhorn". Wir einigten uns, in Bargteheide von der Autobahn abzufahren, um über Lauenburg und Lüneburg wieder auf die Autobahn zurückzu-kehren. Allerdings standen wir nun fast zwei Stunden vor Schwarzenbek. Ich erinnere nicht mehr, wo wir sonst noch und wie lange wir auf der Autobahn parkten. Jedenfalls standen wir mehr, als daß wir fuhren. Und verfuhren uns auch noch bei dem Versuch, wieder einmal einen Stau zu umfahren. In Höhe Köln wurde uns allmählich klar, daß wir den Wiegetermin nicht mehr rechtzeitig schaffen würden. Mißmut machte sich im Wagen breit. Detlev Zawadzki versuchte uns aufzuheitern: "Ich weiß gar nicht, was ihr habt. Wir können es noch locker schaffen. Jörg muß nur einen Schnitt von 300 fahren." Heute wissen wir, daß es Sonderrechte gibt, auf dieser Fahrt haben wir sie einfach genutzt, um vielleicht doch noch rechtzeitig ans Ziel zu kommen.

Die Stimmung im VW-Bus wurde auch nicht besser, als unser Schwergewicht Ralph Thiem, der als einziger nie Gewichtsprobleme hatte, einen Schokoriegel nicht nur auspackte, sondern sogar aufaß. Gegen 23.00 Uhr trafen wir im saarländischen Ort Bous ein. Zwar fuhren wir noch zur Sporthalle, in der vagen Hoffnung, man habe vielleicht doch noch auf uns gewartet. Aber so richtig ernsthaft hatte daran wohl niemand geglaubt - zu recht. Die Halle war dunkel und verschlossen. Es gab also kein Essen und kein "Bierchen", weil wir nun am nächsten Morgen den Nachwiegetermin wahrnehmen mußten. Murrend fuhren wir in unser Hotel und gingen mit knurrenden Mägen und schlecht gelaunt ins Bett.

Am nächsten Morgen waren wir die ersten an der Waage. Schnell schleusten wir die ganze Mannschaft durch die Meldeformalitäten und eilten zurück zum Hotel, wo die Kellner, als wir aufgebrochen waren, gerade begonnen hatten, das Frühstücksbüffet aufzubauen. Damit waren sie erfreulicherweise fertig, als wir vom Wiegen zurückkehrten. Ein ausgehungertes Wolfsrudel stürzte sich auf das Buffet. Außer uns Zehn waren wohl noch etwa 20 bis 25 andere Gäste im Hotel, für die das Frühstück reichen sollte. Leider waren die anderen Gäste später wach als wir. Als die Kellner zum zweiten Mal an diesem Morgen den Frühstücks-raum betraten, war das Buffet abgeräumt. Es lag nicht ein Salatblatt mehr auf Tellern. Und ich möchte nicht dafür garantieren, daß noch alle Teller da waren, weil es durchaus möglich gewesen wäre, daß irgendeiner von uns nicht gemerkt hatte, daß er auch noch das Porzellan verspeist hatte. Nun ja, wir waren nur ein einziges Mal in ein und demselben Hotel.

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Im selben Jahr hatten wir eine Begegnung mit einem Hotel der Dritten Art. Mit Anbruch der Dunkelheit erreichten wir Coburg, brachten die Wiegeprozedur hinter uns und fanden auch zügig zu unserer Unterkunft. In der Dunkelheit erhob sich auf einer kleinen Anhöhe, mit etwa 30 Treppenstufen, ein burgartiges Gebäude mit zwei runden Türmen an der Front. Es sah recht urig aus. Als wir die Treppe hinaufgingen, sahen wir, daß sich im Erdgeschoß eine Metzgerei befand, was ja zunächst einmal nichts Böses ist. Die Rezeption befand sich in der Gaststube im ersten Stock. Wir gingen die Naturstein-Wendeltreppe in dem einen der beiden Türme empor und erkannten sofort den Nachteil der Metzgerei im Haus. Das gesamte Hotel roch nach Fleisch. Da wir hier aber nicht alt werden wollten, kümmerten wir uns nicht weiter darum, sondern bezogen unsere Zimmer im zweiten Stock des Hauses. Wir waren insgesamt 14 Personen und hatten sieben Doppelzimmer reserviert, davon hatten drei eine Dusche im Zimmer, für die übrigen vier Zimmer gab es auf dem Flur nur eine Gemeinschaftsdusche.

Oliver Hennes und Ralph Thiem waren die ersten, die ihr Zimmer betraten, allerdings nur für höchstens 30 Sekunden. Oliver kam schreiend wieder auf den Flur. "Hier bleibe ich keine Sekunde länger," rief er verärgert, "das ist eine Zumutung." Wir nahmen die Zumutung in Augenschein. Ralphs und Olivers Zimmer war eines von denen, die keine eigene Dusche hatten. Doch wurde ihr Fehlen vollständig dadurch kompensiert, daß die Wände derart feucht waren, daß sich die Tapeten von der Wand lösten.

Nur mühsam konnten wir Oliver davon überzeugen, daß wir an einem Freitagabend sicher kein anderes Hotel in Coburg finden würden, welches Platz für 14 Personen böte. Widerwillig ergab er sich seinem Schicksal. Aber auch die Zimmer mit Dusche gaben Anlaß, sich zumindest zu wundern, wenn nicht zu ärgern. Bei den Duschen handelte es sich nicht etwa um separate Waschräume, sondern an den unmöglichsten Stellen im Raum waren Einbauduschen aufgestellt, wie man sie sonst aus Altbauwohnungen oder Kellerräumen kennt. In einem Zimmer stand die Dusche zwischen den beiden Betten. Um die Tür der Duschkabine zu öffnen, mußte man einen der beiden Nachttische zur Seite schieben. Die Zu- und Abwasserversorgung geschah durch zwei Gartenschläuche, die quer durch den Raum von der gegenüberliegenden Wand kamen. Aber wie schon gesagt, wir wollten hier ja nicht alt werden.

Kurze Zeit später verließen wir das Hotel, um irgendwo eine Pizzeria zu finden, damit wir die obligatorischen Nudeln zu uns nehmen konnten. Als wir ein geeignetes Restaurant gefunden und Platz genommen hatten, bestellten wir zunächst jeder ein Bier.

"Was ist denn ein typisches Bier der Region?" war die Frage, die zu einem zu unserem Hotel passenden Geschmackserlebnis führte, denn es wurde uns Rauchbier empfohlen. Nichts Böses ahnend, bestellten wir alle (oder fast alle?) einen halben Liter dieses uns unbekannten Bieres. Da man uns Durst und Hunger wohl ansah, kam der Kellner recht schnell mit den Bierkrügen an unseren Tisch, wir prosteten uns zu und nahmen einen kräftigen Schluck, was folgte, war Schweigen. Der Stille folgte die Frage: "Was ist das?" Mehrere Minuten lang überlegten wir gemeinsam, wie man das beschreiben konnte, was wir eben getrunken hatten. Rauchbier schmeckt wie kaltes Würstchenwasser mit Kohlensäure und ist nur empfehlenswert, wenn man tagelang nichts getrunken hat und keine sonstigen Alternativen vorhanden sind. Im Nachhinein stellt sich auch die Frage, ob es nicht eine Verbindung zwischen dem Abwasserschlauch der Dusche und dem Rauchbier gab, weil man einige auch von einem etwas seifigen Beigeschmack des Rauchbieres sprechen hörte.

Im Hotel zurück führte Ralph Thiem auf dem Flur noch kurz ein kleines Zauberkunststück vor. Er ließ einen Hundertmarkschein durch die Luft wandern und verschwinden. Es gab einen kurzen Tumult, als er dann behauptete, er wisse leider noch nicht, wie man den verschwundenen Geldschein wieder hervorzaubert. Wie durch ein Wunder erschien der Hunderter jedoch am nächsten Morgen beim Frühstück wieder.

Das Frühstück paßte zum Hotel. Es gab Graubrot und zwei Sorten Wurst und Kaffee. Das war's. Auf Nachfrage wurden uns Kakao und Marmelade gebracht. Käse und Tee waren nicht zu organisieren. Bei den beiden Wurstsorten handelte es sich um "Kniescheiben-Wurst" (weil sie fast ausschließlich aus Knorpelstückchen zu bestehen schien) und um "Tote-Augen-Wurst" (weil sie uns anzukucken schien).

Der als Kampfrichter mitgereiste Sven Kühle war ohnehin etwas genervt, weil er so schlecht geschlafen hatte, da in seinem Zimmer die Küchenschaben unter den Betten eine wilde Party gefeiert hatten. Wohl auch aus diesem Grund nahm er eine Wurstscheibe und schlug sie mehrfach auf die Tischkante. Er behauptete allerdings, daß das nicht an seiner Gereiztheit läge, sondern weil er die Wurst totschlagen wollte, da er genau gesehen hätte, daß sie sich auf dem Teller bewegt hatte. Wir bedauerten sehr, daß wir nach der Meisterschaft in dieses Hotel zurück mußten.

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In Walldorf / Baden fand im Jahre 1988 die erste Internationale Deutsche Meisterschaft statt. Gegenüber der Sporthalle befand sich eine Pizzeria, wegen der Nudeln von wichtiger strategischer Bedeutung. Es war ein Tagesablauf wie immer: hungern, fahren, hungern, hungern, wiegen und essen.

Auch das Essen war wie immer: Nudeln, Bier, Nudeln, Bier. Und auch der Schwergewichtler Ralph Thiem bestach wieder durch die Menge an Nahrungsmitteln, die er während einer einzigen Mahlzeit zu sich nehmen konnte. Ein Erlebnis, das man nicht vergißt. Nach dem Essen ging's ins Bett. Ein normaler Vor-Wettkampf-Tag war also zu Ende.

Und ebenso normal verlief dann auch der Wettkampftag selbst: aufstehen, frühstücken, wettkämpfen, duschen, essen. Die einzige Besonderheit ereignete sich beim Essen. Wegen seiner sehr günstigen Lage zum Veranstaltungsort waren wir am zweiten Abend wieder beim Italiener vis á vis der Sporthalle. Man erkannte uns wieder, wir und bestellten .....

Vorab muß ich erwähnen, daß ich am vorherigen Tag einen "Großen Salat des Hauses" gegessen hatte. Und obwohl ich einen echten Heiß-hunger hatte, war es mir nicht möglich gewesen, den Salat vollständig zu verspeisen. Nicht etwa, weil es nicht schmeckte, sondern weil er in seiner Größe nicht zu schlagen war. Ich war einfach pappsatt.

..... Wir bestellten also. Ralph bestellte einen "Großen Salat des Hauses", so einen wie meinen vom Vortag, ein Omelett von zehn Eiern, eine Lasagne und einen Liter Lambrusco. Als der Kellner Ralph seine Salat-schüssel servierte, kam es mir einen Moment lang so vor, als wäre dieser Salat noch größer als am Abend zuvor. Aber ich mußte mich irren. Nachdem Ralph die Schüssel ohne Schwierigkeiten geleert hatte, fragte der Kellner, wie Ralph sein Omelett möchte. Natur oder mit Belag? Ralph entgegnete: "Hau'n Sie ruhig alles drauf, was Sie so in der Küche haben." Als Folge dieser Antwort bekam Ralph ein Omelett, das nicht aus zehn, sondern aus fünfzig bis hundert Eiern bestehen mußte. Es lag auf einem Platzteller und ragte in der Breite rundherum bestimmt eine Handbreite über den Tellerrand heraus. Es war zwei Fingerbreiten hoch mit allem belegt, was man essen kann. Als Ralph gerade mit dem Essen beginnen wollte, stellte der Kellner noch eine Schüssel mit Pommes Frites und eine weitere Salatschüssel, jetzt in der Größe wie meine gestrige, an Ralphs Platz. Auf Ralphs Hinweis, daß er seinen Salat schon bekommen hätte, entgegnete der Kellner: "Das ist die Beilage zum Omelett." Auch dieses Gericht schaffte Ralph ohne Murren.

Weil wir inzwischen bemerkt hatten, daß der Koch immer wieder aus seiner Küche herauskam und zu unserem Tisch herüberschaute, ahnten wir, daß der Abend für Ralph noch nicht zu Ende war. Und tatsächlich erreichte das Mahl seinen Höhepunkt erst, als die noch ausstehende Lasagne serviert wurde. Wohl jeder hat eine Vorstellung von der Größe einer Lasagne, die man erhält, wenn man sie in einem italienischen Restaurant bestellt. Es gibt kleine, mittlere und große Portionen. Es mag auch sehr große Portionen geben. Vor Ralph stand eine Portion für mehrere Familien. Sie wollten ihn platzen sehen.

Ralph schluckte und machte sich an den Verzehr. Ich glaube, während er die Lasagne aß, war es das erste und einzige Mal, daß ich bei ihm beim Essen Schweißperlen auf der Stirn entdecken konnte. Er kämpfte und ächzte, aber gab nicht auf. Der Teller war leer. Mit einem süffisanten Grinsen räumte der Kellner den Teller ab und fragte Ralph, ob es denn geschmeckt hätte. Ralph nickte, wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und bestellte einen weiteren Liter Lambrusco und zehn Kugeln Eis. Er hatte gewonnen.

Ein besonderes Erlebnis

Auf der Heimreise von einem Berlin-Pokal-Turnier standen wir an der damaligen Grenze zur DDR. Unsere Pässe waren bereits eingesammelt und wir warteten auf ihre Rückgabe. Draußen war es dunkel, kalt und gespenstig ruhig. Wir waren das einzige Fahrzeug weit und breit.

Ein DDR-Grenzer kam auf unseren Wagen zu, aber nicht um uns unsere Papiere auszuhändigen. Statt dessen öffnete er die Schiebetür und fragte uns, ob wir einen erfolgreichen Tag gehabt hätten. Irgend jemand kramte den gewonnen Pokal aus dem Gepäck, hielt ihn aus der Tür und sagte: "Erster Platz." Wir machten noch ein wenig Smalltalk mit dem Offizier, bis jemand fragte: "Wollen Sie diesen Topf hier nicht gegen Ihre Mütze eintauschen?" Das gelbe Licht der Straßenlaternen färbte seinen Teint in einen befremdlich wirkenden Farbton. Durch den Schattenwurf seiner bewußten Dienstmütze schienen seine Augen nur aus leeren Höhlen zu bestehen. Der Grenzer machte wortlos kehrt und ging forschen Schrittes in die Baracke, in der sich seine Kollegen aufhielten.

Wir befürchteten, daß er unser Angebot nicht akzeptabel fand. Minuten-lang geschah nichts. Die Stille nahm zu. Selbst die Geräusche eines auf einer der Nebenspuren vorbeifahrenden Autos wurden von den umher-wabernden Nebelschwaden verschluckt. Etwa 300 bis 400 Meter vor uns machten sich einige nur schemenhaft zu erkennende Gestalten hektisch an etwas zu schaffen. Ein lauter Knall ertönte aus dem Nirgendwo. Der Scheinwerfer eines weiteren Fahrzeugs, das sich von hinten näherte, erhellte für einen kurzen Moment das Innere unseres VW-Busses.

Die Tür der Baracke öffnete sich. Gleich würden sie uns erschießen, verhaften oder ähnlich schlimmes mit uns veranstalten. Der einsame Grenzbeamte (der mit der Mütze) trat wieder neben unseren Wagen.

"Geht leider nicht. Ich habe keine Ersatzmütze dabei. Und ohne bekomme ich Ärger mit meinem Vorgesetzten. Schade, das Ding wäre ein prima Auspuff für meinen Trabbi gewesen." Mit diesen Worten händigte er uns unsere Reisepässe aus, und wir begannen die Fahrt in die Nacht.

Technik, Taktik, Verletzungen und deren Folgen

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Im Finale der Deutschen Vereinsmeisterschaft 1991 hatte im Kampf in der Gewichtsklasse bis 65 kg der Lübecker Oliver Hennes seinen Gegner zu Fall gebracht. Es war nicht genau zu erkennen gewesen, ob dies durch eine Wurftechnik von Oliver geschehen war, oder ob sein Gegner lediglich nur gestolpert war.

Jedenfalls hatte Oliver im Eifer des Gefechtes einen Stop-Ruf des Haupt-kampfrichters vernommen und daher einen Übergang in den Bodenkampf abgebrochen und drehte sich von seinem Gegner weg, um zu seinem Startplatz auf der Kampffläche zurück zu gehen. Weil er dadurch auch den Kampfrichtern den Rücken zudrehte, konnte er nicht sehen, daß diese überrascht auf einen Fortgang des Kampfes warteten, und er konnte auch nicht sehen, daß sein Gegner sich sehr langsam vom Boden erhob.

Da die Kampfrichter den Kampf offensichtlich nicht unterbrechen wollten, war mir als Betreuer am Mattenrand hingegen sofort klar, daß Oliver eine hervorragende Gelegenheit hatte, doch noch in den Bodenkampf zu gehen, um durch einen Hebel den Kampf vorzeitig für sich zu entscheiden.

Folglich rief ich ihm zu, ja ich schrie ihn wegen des Lärms der Zuschauer förmlich an: "Es geht weiter!"

Oliver drehte sich auf der Stelle wieder seinem Gegner zu. Dieser stützte sich gerade mit beiden Händen am Boden ab, um sich aufzurichten. Für Oliver muß es aus der Drehung ausgesehen haben, als sei sein Gegenüber auf dem Sprung. Daher trat er einen ungebremsten Halbkreisfußtritt gegen seinen Kontrahenten. Da dieser nun aber keinesfalls auf dem Sprung war, sondern noch mit den Auswirkungen seines Aufpralls auf der Matte zu tun hatte, traf ihn der Fuß Olivers vollkommen unerwartet am Kopf. Für seinen Gegner bedeutete dies ein KO, für Oliver die Disqualifikation.

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In einem Vorrundenkampf einer Norddeutschen Meisterschaft setzte Diethard Kaben zu einer Doppelhandsichel an. Leider setzte sein Gegner gleichzeitig zu einem Halbkreisfußtritt an - und war schneller. Diethard ging zu Boden, blutete aus der Nase und war mehr als benommen.

Im Rettungswagen wurde Diethard ins Krankenhaus gefahren. Als ich einige Stunden später dort nach ihm schauen wollte, war ich einiger-maßen erschrocken, denn Diethards Gesicht war derart angeschwollen und blau verfärbt, daß er kaum wiederzuerkennen war.

Am nächsten Tag fand die Meisterschaft der Jugendlichen statt. Auf dem Weg in die Sporthalle fuhren mein Begleiter Heiko Schwarz und ich noch schnell im Krankenhaus vorbei. Heiko kannte Diethard schon lange und gut. Im Auto hatte ich ihm gesagt, er solle keinen Schreck bekommen, da Diethard doch etwas entstellt aussähe.

Als wir das Krankenzimmer betraten, schaute sich Heiko in dem Vier-Bett-Zimmer kurz um und sagte: "Entschuldigung, wir haben uns in der Tür geirrt." und drehte sich um. Obwohl Diethard in dem Zimmer lag, war er in der Tat so entstellt, daß Heiko ihn nicht erkannt hatte. Zwar ist bei Diethard heute alles verheilt, aber sein Gesicht ist immer noch etwas anders geformt, als vor seiner Begegnung mit dem Fuß des Gegners. Das ist das, was man bleibende Eindrücke nennen kann.

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Ebenfalls bei einer Norddeutschen Meisterschaft, ebenfalls beim Ansatz einer Doppelhandsichel und ebenfalls bei einem Gegner, dessen Halb-kreisfußtritt schneller war, ging Heinz Dorloff zu Boden. Wie schlimm der Treffer gewesen sein muß, kann man ahnen, wenn man die Videoauf-zeichnung dieser Begegnung sieht. Ich saß als Betreuer am Mattenrand und war schon halb auf der Matte, bevor Heinz in Folge des Treffers am Boden lag. Dort lag er dann wirklich mit verdrehten Augen und heraus-hängender Zunge für etwa ein bis eineinhalb Minuten - es sah gar nicht gut aus.

Dann kam Heinz aber wieder zu sich. Erleichterung bei allen Anwesenden. Doch Heinz wußte nicht mehr, was er mit den Safeties an der Hand trieb, wer seine derzeitige Freundin war, und nach Einzelheiten wie Datum oder Uhrzeit brauchten wir gar nicht erst zu fragen.

Die Sanitäter trugen Heinz auf einer Trage von der Matte. Der damalige Bundestrainer Jürgen Wedding war dazu geeilt und hielt Heinz an der Hand. Im Minutentakt fragte Heinz, was denn geschehen sei, und Jürgen Wedding erklärte es. Heinz fragte sechs- oder siebenmal, solange dauerte es bis der Rettungswagen da war.

Nach dem fünften Nachfragen war mir folgendes klar geworden: Wenn man sich nach einem Unfall nicht mehr an Ereignisse, die vor dem Unfall geschehen sind, erinnern kann, nennt man das retrograde Amnesie. Wenn man sich an die Ereignisse nach dem Unfall nicht mehr erinnern kann, liegt eine anterograde Amnesie vor. Heinz hatte eine Mischform. Man hätte ihm noch hundertmal berichten können, was passiert war - er hätte es ohnehin sofort wieder vergessen.

Mit einer Begleitperson wurde Heinz in ein Krankenhaus gebracht. Stunden später fuhr ich mit Stephan Hein, der eine kleine Platzwunde am Kinn hatte, die genäht werden mußte, ebenfalls ins Krankenhaus. Als wir gerade die Eingangshalle der Notaufnahme betraten, kamen uns Heinz und sein Begleiter entgegen. Gerade hatten sie sich ein Taxi bestellt und wollten wieder zur Sporthalle zurückfahren.

Heinz' Gedächtnis war inzwischen soweit hergestellt, daß er zwar keine Erinnerung mehr an den Fußtritt hatte, sich ansonsten aber wieder orientieren konnte.

Wir einigten uns darauf, das Taxi wieder abzubestellen und, nachdem Stephans Wunde versorgt war, zusammen zur Halle zurückzufahren. Im Warteraum des Krankenhauses, der brechend gefüllt war, erzählte uns Heinz, daß sein Arzt sich mit "von Sowieso" vorgestellt hatte. Darauf stellte sich Heinz mit "von Bismarck" vor, weil er sich sicher war, daß es den mal gegeben hat, bei seinem eigenen Namen war er sich zu dem Zeitpunkt nicht mehr so sicher.

Dies war Anlaß, über Adelige im Allgemeinen herzuziehen. Die Stimmung im Wartezimmer wurde grandios, auch bei den übrigen Wartenden. Nur eine Dame mittleren Alters schaute ein wenig verkniffen. Sie wurde einige Minuten später mit "Frau von Irgendwas" zur Behandlung gebeten. Daraufhin griff sich Heinz eine Tageszeitung, die auf einem kleinen Tisch neben ihm lag, um sich und sein Lachen dahinter zu verstecken. Schlagartig ließ er die Zeitung aber auf seinen Schoß sinken und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Die Panik darin war nicht gespielt, sondern echt, als er sagte: "Jörg, ich kann nicht mehr lesen." Mein Nachbar war immer noch am Kichern und haute mir mit dem Ellenbogen in die Seite. Ihn schnauzte ich an: "Das finde ich gar nicht mehr komisch." und zu Heinz sagte ich ruhig: "Dann solltest Du noch mal zum Arzt reingehen, das wird ihn interessieren." Mein Nachbar lachte immer noch, hielt sich den Bauch, und Heinz schrie mich flehend an: "Ich kriege keinen Sinn in diese Buchstaben." Inzwischen hatte auch ich erkannt, worüber mein Nachbar sich so amüsierte. Heinz hatte eine türkische Tageszeitung in der Hand.

Fazit:

  • Dies waren die schlimmsten Verletzungen, die wir gemeinsam in den zehn Jahren erlebt haben und die ich in den zehn Jahren danach erlebte, in denen ich noch in Sachen Wettkampf durch Deutschland reiste.
  • "Der Halbkreisfußtritt ist eine durchaus selbstverteidigungstaugliche Technik." (Oliver Hennes)

Die Gemeinschaft in unserer Ju Jutsu-Wettkampfgruppe

Beeindruckend ist für mich die Konstanz mit der diese Wettkampfgruppe während der letzten 15 bis 20 Jahre den Kontakt zum Ju Jutsu im Speziellen, zum Sport im Allgemeinen und besonders zu einander gehalten hat.

Mit den Ju Jutsu-Wettkämpfen ist es zwar schon länger vorbei, aber nachwievor stehen "Wettkämpfer der ersten Stunde" am Dienstag auf der Wettkampfmatte. Wenn auch die aktive Teilnahme an den Ju Jutsu-Wettkämpfen, in der Regel aus Altersgründen, nicht mehr möglich ist, zeigen etliche Beispiele, daß das Wettkampffieber uns trotzdem gepackt hält:

  • So ist nicht nur das alljährliche Frisbee-Turnier im LJC aus dem Aufwärmprogramm der Wettkampfmannschaft entstanden.
  • So sind nicht nur etliche Marathonläufer aus der Gruppe hervorgegangen.
  • So haben einige Unerschrockene der Gruppe sehr erfolgreich am ersten schleswig-holsteinischen Sumo-Turnier teilgenommen.
  • So vertrat im September 2003 unser "Küken" Muriel Heller in Ermangelung eines geeigneten Ju Jutsu-Äquivalentes die Universität von Sydney / Australien, an der sie einige Auslandssemester absolviert, bei den Australian University Games im Judo (Mannschaft und Einzel).
  • So kann die mehrfache Deutsche und Internationale Deutsche Ju Jutsu-Meisterin Martina Seidel auch noch mit Titeln in einer ganz anderen Sportart aufwarten. Sie ist amtierende Deutsche Senioren-Meisterin über 400 m und 400 m Hürden, sowie Senioren-Europa-meisterin über 400 m Hürden und in der 4 x 400 m Staffel (jeweils Altersklasse 40).

Es gibt noch Dutzende (Hunderte?) von Anekdoten, die wir erzählen könnten. Aber zum einen würde das wohl den Rahmen sprengen, zum anderen reicht das literarische Talent nicht, die Situationskomik oder auch Situationstragik dieser Geschichten für Dritte unterhaltsam darzustellen. Wer mehr erfahren möchte, muß einfach dienstags um 18.30 Uhr zu unserem Training erscheinen.

Aber ganz besonders möchte ich die freundschaftliche Verbundenheit erwähnen, die diese Gruppe auszeichnet. Wir haben viele Hochzeiten zusammen gefeiert, viele Unfälle und einen Todesfall erlebt, Erfolge und Niederlagen geteilt.

Es ist nicht nur Sport, es ist eine Freude und Schule fürs Leben.