Jörg Preuße: Über Sport, Kampfsport und Leistungssport
Über Sport
Zunächst mag man denken, Sport sei eine Sache der Sportler. Bei näherer Betrachtung aber merkt man schnell, daß man in dieser Annahme irrt. Der aktive Sportler ist es zwar, um den sich alles dreht, aber er ist nicht derjenige, der dreht. Im Sport sind unterschiedliche Personen mit unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen betraut und nehmen auf ihre Weise Einfluß auf den Sportbetrieb. Mit welchen Personen haben wir es zu tun?
Da ist zunächst natürlich der aktive Sportler, aber da sind auch Trainer, Funktionäre, Mediziner, Medien, Zuschauer und Politiker. Sie alle haben unterschiedliche Bedeutung und anderen Einfluß auf den Sport.
Die Beziehung zwischen Trainer und Athlet läßt sich folgendermaßen kennzeichnen. Beide werden aneinander gebunden durch ein gemeinsames Ziel, die Bestleistung des Sportlers. Der Aktive muß hierzu seinen Körper und seinen Geist zur Verfügung stellen, um durch Anpassungs- und Lernprozesse zu Wettkampfehren zu gelangen. Vom Trainer wird in dieser Beziehung erwartet, daß er sein spezielles Wissen so einsetzt, daß es dem von ihm betreuten Sportler gerecht werden kann, und daß er Anleitungen und Informationen gibt, die der Leistungsentwicklung des Sportlers förderlich sind. Neben dem Wunsch nach sportlichem Erfolg ist beiden ferner der von außen gesetzte Druck zu einem solchen gemeinsam. Was beide unterscheidet, ist die Tatsache, daß es dem Trainer zunächst relativ egal sein kann, welche Belastung er seinem Sportler zumutet (solange dieser Willens ist, diese auf sich zu nehmen), während der Sportler eher dazu neigen wird, seinen Erfolg mit möglichst geringem Aufwand zu erzielen. Um diesen Konflikt zu vermeiden, muß der Trainer seine Maßnahmen rechtfertigen können, indem er sie seinen Athleten plausibel macht. Der Sportler wiederum muß sich bemühen, Gedanken des Trainers zu verstehen, aber auch dem Sinn seiner Maßnahmen vertrauen. Wenn dieser Konflikt aber latent vorhanden ist, wird es passieren, daß beide Seiten einen Erfolg sich selber zuschreiben werden, einen Mißerfolg aber nur der anderen Partei anlasten werden. Darum müssen sich Trainer und Sportler darüber verständigen, was sie von einander erwarten. Dabei können sie sich sicher sein, daß ein Mißerfolg keinem von beiden dient.
Relativ konfliktlos wird es zugehen, wenn sich ein "guter" Sportler und "guter" Trainer zusammenfinden, da der Erfolg sicher ist. Schwieriger wird es bei ausbleibenden Erfolgen. Schließlich sind in diesem Fall mehrere Kombinationen möglich. Treffen sich ein "schlechter" Sportler und ein "schlechter" Trainer liegt die Antwort für den Mißerfolg auf der Hand. Ein "guter" Sportler, der von einem "schlechten" Trainer betreut wird, kann und sollte sich schleunigst nach einem besseren umsehen. Was aber geschieht mit einem "guten" Trainer, der für einen "schlechten" Sportler verantwortlich ist? Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß im Leistungssport i.d.R. ein "guter" Sportler ein erfolgreicher, und ein "schlechter" ein erfolgloser Athlet ist.
An den Trainer seien folglich einige Empfehlungen gerichtet, da er zwar nicht unbedingt die intelligentere, aber zumindest die intellektuellere Rolle in der Zweier-Beziehung Aktiver-Trainer spielt (die Aktiven mögen mir diese Behauptung verzeihen).
- Der Trainer muß sich ständig in die Lage des Sportlers versetzen, damit er ihn körperlich, intellektuell und psychisch nie überfordert.
- Beide Seiten müssen in einem ständigen Diskussionsprozeß bleiben, um unterschwellige Differenzen zu verhindern.
- Trainer und Athlet sollten sich nicht nur für die sportlichen, sondern auch für die persönlichen Angelegenheiten des anderen interessieren, und sich darüber austauschen.
- Der Sportler darf keinesfalls vom Trainer abhängig werden, sondern sollte im Gegenteil zu größtmöglicher Selbständigkeit erzogen werden. Unser Idealbild eines Trainers leitet die ihm anvertrauten Sportler so an, daß er sich selbst überflüssig macht.
- Der Trainer sollte sich freuen, wenn sich Sportler für seine Tätigkeit und ihren Erfolg dankbar zeigen, aber er sollte keinen Dank erwarten.
Wenn ein Trainer diese Empfehlungen beachtet, werden Sportler und Trainer zu einer Einheit zusammenwachsen. Gelingt es dem Trainer nicht, diese Einheit zu schaffen, werden die vorher genannten Konflikte die Beziehung behindern.
Funktionäre sind eine eigene Spezies des Sports. Wie Trainer und Sportler sind sie an einem erfolgreichen Abschneiden der Sportler ihres Vereines oder Verbandes interessiert. Wenn man den Konflikt zwischen Sportler und Trainer mit dem Begriff "Belastung" beschreiben kann, dann ist der Konflikt zwischen Funktionären und Trainer/Sportler mit dem Wort "Kosten" zu charakterisieren. Trainer und Aktiver sind eigentlich immer bestrebt, für als notwendig angesehene Maßnahmen auch ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen, wobei ihnen leicht der Überblick dafür verloren geht, welche anderen Maßnahmen einer Geldspritze bedürfen, denen von ihnen eine geringere Priorität eingeräumt wird. Vereinfacht gesagt haben Funktionäre die Aufgabe abzuwägen, ob der Leistungssport neue Mitglieder zum Sport zieht, oder ob aus der Masse der Breitensportler neue Leistungssportler hervorgehen. In diesen Fragen verfügen die Funktionäre über die größere Kompetenz. Problematischer wird die Beziehung, wenn sich Funktionäre in Belange einmischen, die unseres Erachtens in das Aufgabenfeld des Trainers fallen, besonders Fragen der Mannschaftsaufstellung und der Trainingsgestaltung. Der Sportler ist derjenige, der das Training ausführt, der Trainer liefert die Informationen, die für die Leistungsentwicklung des Sportlers nötig sind, die Funktionäre stellen die organisatorischen Voraussetzungen zur Verfügung, die Sportler und Trainer benötigen, um optimal zu arbeiten.
Ebenso wie die Funktionäre sind auch die Kampfrichter dem aktiven Sport entrückt. Kein Funktionär und kein Trainer muß selbst aktiv gewesen sein, um trotzdem seine Aufgabe gut zu erfüllen. Allerdings werden sie die Sportler besser verstehen können, wenn sie selbst schon auf der Matte gegen andere Gegner angetreten sind. Dies gilt noch viel mehr für die Kampfrichter. Sie haben auf der Kampffläche die unbeschränkte Macht, über Sieg und Niederlage zu entscheiden. Nicht wenige Wettkämpfe werden nicht durch die beiden Kontrahenten mit ihren Techniken, sondern durch das Kampfgericht und seine Sichtweise dieser Techniken entschieden. Sicherlich ist die Aufgabe eines Kampfrichters eine undankbare. Niemand wird von sich behaupten, er verdanke seinen Sieg der mangelhaften Leistung der Kampfrichter. Eine Niederlage aber wird allzu häufig mit der Fehlentscheidung der Kampfrichter begründet. Also stehen sie in diesem Augenblick als Sündenböcke auf der Matte. Im Leistungssport wird vom Athleten, von seinem Trainer und von den Organisatoren und Helfern ständig Bestleistung und Einsatz verlangt. Die Forderung zu derartiger Leistung muß auch an die Kampfrichter gestellt werden. Um aber gute Leistungen zu erbringen, muß man üben und trainieren. Kampfrichter können nur üben und trainieren, wenn sie häufig ihrer Aufgabe nachkommen - sei es beim Training in den Vereinen, sei es auf Turnieren oder Wettkämpfen. Für Trainer und Aktive gibt es als Anreiz für ihren Einsatz den Ansehensgewinn, den ein sportlicher Erfolg mitsichbringt. Aber die Kampfrichter werden in der Regel nicht bedacht. Weil aber ohne sie kein Wettkampf zustande käme, muß auch für sie ein Anreiz geschaffen werden, der sie zu einer guten Leistung anspornt. Dieser Anreiz kann unseres Erachtens nur durch eine angemessene materielle Entschädigung erfolgen.
Eine weitere Gruppe, die für Konflikte sorgt, sind Angehörige medizinischer Berufe. Während sie im Zweifelsfall für eine Schonung und eine Trainingspause des Athleten plädieren, sind Sportler, Trainer und Funktionäre an einer schnellen Einsatzfähigkeit des Sportlers interessiert. Dieser Konflikt läßt sich nur lösen, wenn ein Mediziner zur Verfügung steht, der sich leistungssportlich orientiert. Einem Sportler, der im Kampf um den Einzug ins Finale der Deutschen Meisterschaft steht, ist nicht mit einem Arzt gedient, der glaubt, eine Zerrung der Oberschenkelmuskulatur mit einem Abbruch des Kampfes behandeln zu müssen, sondern er braucht jemanden, der weiß, wie man trotz der Zerrung weiterkämpfen kann, und der am Ende des Turniers den Verletzten adäquat behandeln kann. Der Konfliktpunkt heißt in diesem Fall "Belastbarkeit".
Die Bedeutung der Medien wird ersichtlich in der Tatsache, daß eine Veranstaltung, die ohne Berichterstattung stattgefunden hat, eigentlich gar nicht stattgefunden hat. Während nun Funktionäre in erster Linie daran interessiert sind, daß ihr Sport überhaupt in einem guten Licht erscheint (=Werbung für den Verein oder Verband), sind für Trainer und Sportler hauptsächlich das gute Abschneiden der eigenen Person in den Presseberichten von Bedeutung (= Werbung für das Individuum). Die Macht der Journalisten liegt darin, daß sie in der Lage sind, die Leistungen des Verbandes oder des Einzelnen nach ihrem Gutdünken hervorzuheben oder zu erniedrigen. Der Konflikt "Ansehen" ergibt sich daraus, daß die Rolle in der öffentlichen Meinung und das Selbstwertgefühl zu einem nicht unerheblichen Teil von der veröffentlichten Meinung abhängig sind.
Die Zuschauer kann man in zwei Interessengruppen einteilen. Da sind zunächst einmal diejenigen, die einen Freund oder Verwandten unter den Aktiven haben. Ihr Interesse geht ohnehin nur in die Richtung, denjenigen siegen zu sehen, dessentwegen sie die Veranstaltung besuchen. Anders verhält es sich mit solchen Zuschauern, die aus Zufall oder Neugier auf den Zuschauerbänken sitzen. Für sie zählt in erster Linie der Unterhaltungswert der Veranstaltung, wodurch eine Sportveranstaltung in die Nähe einer Theateraufführung gerückt wird. Diese Form des Sportkonsums verstärkt die verbreitete Neigung zum Sich-berieseln-lassen und zur Passivität. Die Kriterien, die den Sport für die Zuschauer interessant machen, werden individuell verschieden, aber auch sportartabhängig sein. Daß Sport auch eine politische Funktion hat, wurde schon im antiken Rom erkannt. "Brot und Spiele" dienten der Belustigung des Volkes, und zusammen mit einem passenden Feindbild seiner Ablenkung von innenpolitischen Problemen. Im Fernseh-Zeitalter gewinnt diese Erfahrung eine völlig neue Dimension; denn heute ist es möglich während eines Fußball-Länderspiels die Hälfte der Bevölkerung in mehr oder weniger nationalen Taumel zu versetzen.
Dies ist das einzige Argument gegen die Förderung des Spitzensports mit öffentlichen Geldern.
Über Kampfsport
Die Geschichte der Kampfkunst ist nahezu so alt wie die Menschheit. Fast alle Kulturen der Erde kennen aus ihrer Geschichte die unterschiedlichsten Kampfsportarten.
Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende hat sich der Charakter der meisten Kampfsportarten gewandelt. In der Urzeit der Menschheit war die Fähigkeit, im Zweikampf zu bestehen, Voraussetzung zum Überleben. Später dienten Zweikampfübungen in erster Linie der Vorbereitung von Söldnern und Soldaten auf kriegerische Auseinandersetzungen. Aber auch erste Ansätze eines sportlichen Zweikampfes begannen sich zu zeigen, etwa der Faust- und Ringkampf im antiken Olympia. Mit zunehmender Verbreitung von Schußwaffen verlor der militärische Zweikampf an Bedeutung, die sportliche Komponente wurde alleiniger Sinn und Zweck der Kampfübungen. Diese Tendenz läßt sich überall in der Welt verfolgen: Judo und Kendo in Japan, Fechten in Europa, Arnis auf den Phillipinen, die verschiedenen Formen des Ringens und Boxens in aller Welt mögen als einige Beispiele für den Wandel des Zweikampfes zu friedlichen Zwecken dienen.
Welchen Stellenwert viele Nationen dem sportlichen Zweikampf zumessen, zeigt sich z.B. in der Tatsache, daß in der türkischen Sprache der Begriff "Pehlivan" für Ringer und Held gleichzeitig steht, oder daß japanische Sumo-Ringer wie Götter verehrt werden.
Mit zunehmender Gewalttätigkeit im täglichen Leben gewannen die Kampfsportarten wieder einen Teil ihrer alten Bedeutung zurück. Aus Gründen der persönlichen Selbstverteidigung begann ein nicht geringer Teil von Menschen, Kampfsportarten zu erlernen. Vor allem von den fernöstlichen Systemen wurden (wohl wegen ihrer extremen Kommerzialisierung) wahre Wunderdinge erwartet, wobei kein Kampfsport den verklärenden und hochgesteckten Erwartungen gerecht werden kann. Als sich herausstellte, daß keine der bekannten Kampfsportarten einen umfassenden Schutz gegen körperliche Übergriffe bot, wurde das neue System Ju-Jutsu geschaffen, das diesem Mangel abhelfen sollte. Die Idee war einfach und schlüssig: die wirkungsvollsten Techniken aus verschiedenen Kampfsportarten sollten zum Zweck der Selbstverteidigung zusammengefaßt und einheitlich gelehrt werden. Ob Ju-Jutsu nun das Non-Plus-Ultra der Selbstverteidigung darstellt, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden.
Weil sich bei einem nur auf Selbstverteidigung ausgerichteten Sport zwangsläufig irgendwann die Frage stellt, warum man sich auf eine Situation vorbereitet, die man wahrscheinlich nie erlebt, wurde unseres Erachtens als tiefgreifendste Neuerung der Wettkampf im Ju-Jutsu eingeführt. Durch die strikte Konzentrierung auf den Bereich der Selbstverteidigung gab es bis dahin keine direkte Vergleichbarkeit zwischen den Ju-Jutsu-Sportlern und keine Effektivitätskontrolle. Zudem sind wir der Ansicht, daß ein Sportler der ernsthaft Selbstverteidigung betreiben will, ohne Kontakt-Kampf zu üben, sich lediglich einer falschen und gefährlichen Illusion hingibt. Kontakt-Kampf ist das Salz in der Suppe der Selbstverteidigung, ohne daß man dadurch gezwungen ist, auch Wettkämpfe zu bestreiten.
Dem Wunsch der Aktiven nach einem Wettkampf konnte nur nach Schwierigkeiten (begründet im Konkurrenzdenken einiger Funktionäre) nachgekommen werden.
Mit seiner offiziellen, bundesweiten Einführung im Jahr 1987 vollzog sich im Ju-Jutsu innerhalb weniger Jahre eine Entwicklung, die andere Kampfsportsysteme im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten durchmachten. Aus dem an der Praxis (gleich Selbstverteidigung) orientierten wurde ein sportlich ausgerichteter Kampfsport.
Das Konzept des DJJV zur Frauen-Selbstverteidigung stellt eine weitere wesentliche Veränderung im Ju-Jutsu dar, weil es vielmehr die Idee der Selbstbehauptung als der Selbstverteidigung verficht. Kampftechniken stellen hier nur einen kleinen Auschnitt aus den Handlungsmöglichkeiten dar. Im Vordergrund stehen solche Maßnahmen, die durch vorausschauendes und selbstbewußtes Verhalten einen Angriff vermeiden helfen. Deeskalation und Angriffsvermeidung sind Ideen von der auch alle männlichen Juka nur profitieren können.
Allerdings steht u.E. das Selbstvertrauen, das in diesen Kursen erlernt wird, auf tönernen Füßen; denn in erster Linie handelt es sich um eine schauspielerische Leistung, die in einer Bedrohungssituation vollzogen wird. Ich werde aber ein viel größeres Selbstvertrauen ausstrahlen können, wenn ich über genügend Selbstsicherheit verfüge, die Sicherheit, mich vielhundertfach im Training auch gegen körperlich überlegene Gegner zur Wehr gesetzt zu haben, die Sicherheit, daß einige meiner Techniken auch dann noch funktionieren, wenn der Gegner sich der Ausführung mit aller Kraft widersetzt, und die Sicherheit, daß ich auch in Streßsituationen oder nach einem möglichen Treffer noch aktionsfähig bin.
Wir wollen damit nicht behaupten, daß der Wettkampf eine "realistischere" Selbstverteidigungssituation darstellt als das traditionelle Ju-Jutsu oder in der Frauen-Selbstverteidigung vermittelte Inhalte, aber er berücksichtigt Aspekte, die den anderen Bereichen unserer Sportart fehlen. Sportler, die tatsächlich Selbstverteidigung erlernen wollen, und nicht "nur" Sport treiben wollen, müssen in allen drei Bereichen ausgebildet sein. Über den Charakter sportlichen Zweikampfes gibt es in der Bevölkerung geteilte Ansichten. Für die einen ist jeglicher Kampfsport sinnleere und brutale Kraftmeierei, für die anderen die Möglichkeit zu einem geregelten Aggressionsabbau und zum Erlernen effektiver Selbstverteidigung.
Die Bedeutung des Selbstverteidigungsgedankens wird daran deutlich, daß die meisten Kampfsportarten für sich werben, indem sie u.a. ihren Wert für die Selbstverteidigung hervorheben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die nicht-asiatischen Kampfsportarten (wie Boxen oder Ringen) nicht so sehr den Selbstverteidigungs-, sondern eher den Wettkampfcharakter betonen. Jeder, der einen Kampfsport betreibt, wird schon mehrmals die Frage gestellt bekommen haben, wie er sich gegen Angriffe zur Wehr setzen könne. Wie die Antwort ausfällt, ist abhängig von der Einstellung des einzelnen Sportlers. Warum aber wird diese Frage niemals einem Leichtathleten gestellt, wo doch eine gute 100-m-Zeit sicherlich eine gute Basis für eine erfolgreiche Selbstverteidigung darstellt? Ebenso wäre es berechtigt, diese Frage an einen Handballer zu richten, da bekannt ist, daß Handball eine nicht gerade körperlose Sportart ist.
Bei Kampfsportarten ist der Kampfcharakter sehr offensichtlich. Es ist das Ziel das sportliche Gegenüber zu schlagen, zu treten, zu werfen, zu hebeln oder zu würgen. Man übt also Handlungen aus, die im täglichen Leben einen aggressiven Charakter hätten, und als solche geächtet würden. Der Läufer hingegen betätigt sich vollkommen friedlich. Beim Handball sind die aggressiven Handlungen entweder verdeckt und eigentlich verboten, oder sie sind erlaubt, aber in jedem Fall nicht das Ziel des sportlichen Vergleiches. Wenn aber zwei Menschen gegeneinander antreten, um sich direkt körperlich zu bezwingen, ist das etwas völlig anderes, als wenn diese Auseinandersetzung im Verborgenen und heimlich stattfindet. Die Frage der körperlichen Schädigung spielt für die Bewertung der Sportart keine Rolle, denn nach Verletzungsstatistiken der Versicherungsunternehmen ist die Verletzungsanfälligkeit in Kampfsportarten im Allgemeinen geringer als in Ballsportarten oder beim Ballett.
Hier müssen wir aber eine Einschränkung vornehmen, die uns sehr am Herzen liegt. Wir sollten unterscheiden zwischen Kampfsportarten, die das Ziel haben, den Gegner zu verletzen, und solchen, die den Gegner ohne körperliche Schädigung bezwingen wollen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich in einem Wettkampf einen Gegner versehentlich mit einem Schlag treffe, oder ob ich auf einen Gegner einschlage, der wehrlos in den Seilen hängt. Und gerade in Zeiten, in denen die gesundheitliche Gefährdung durch das Boxen immer wieder bewiesen wird, sollte nicht eine neue Sportart entstehen, die nichts aus den Fehlern des Boxsports lernt.
Die Auseinandersetzung mit anderen Menschen scheint ein Urbedürfnis der Menschheit zu sein. Die Entstehung von Kriegen, der euphorische Marsch in die Schlachten, zu dem sich die Massen immer wieder und überall auf der Welt bereitfinden, sind zwei Beispiele. Kindesmißhandlungen, die Entstehung von gewalttätigen Jugendbanden oder alltägliche Gewaltkriminalität sind andere. Da bleibt die Frage nach dem Sinn von Kampfsport überhaupt. Wird nicht der latenten, wie auch der offensichtlichen Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung dadurch erst die technische Möglichkeit zu einer körperlichen Auseinandersetzung gegeben? Wir denken, daß das nicht so ist.
Gewalt im Alltag hat es immer gegeben, lange bevor Kampf in sportlicher Form ausgeübt wurde. Ob jemand mit einer "Schelle" oder mit einem technisch perfekten Fauststoß niedergeschlagen wird, ist nur ein unwesentlicher Unterschied; denn die Person des Schlägers ist die gleiche. Kampfsport erhöht zwar die Wirksamkeit von gewalttätigen Handlungen, nicht aber die Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Hier ist die Gesellschaft, hier sind also wir gefordert, solche Gewalttätigkeit unnötig zu machen. Gewalt ist immer die Sprache derjenigen, die sich anders nicht artikulieren können.
Wenn also Kampf den Menschen ein Bedürfnis ist, müssen wir den Kampf kultivieren, denn Kampf ist ein Urphänomen wie Spiel, Gesang und Tanz. Was bietet sich besser an, Aggressionen in geordnete Bahnen zu lenken, als der kontrollierte Kampf nach einem festen, den Menschen im Gegner respektierenden Regelwerk. Wer im sportlichen Zweikampf Aggressionen abbaut, hat es nicht nötig, dies auf der Straße zu tun.
Im Gegensatz zu Mannschaftssportarten sind Individual- und Kampfsportler letztendlich für ihr Handeln und ihren Erfolg, bzw. Mißerfolg im Wettkampf alleine verantwortlich. Es ist ihnen nicht möglich, sich hinter Mitspielern zu verstecken, wenn sie schlechte Leistung zeigen. Daher lasten ganz andere psychische Probleme auf ihnen. Die körperliche Beanspruchung ist vielseitiger als etwa in der Leichtathletik oder in Spielsportarten, da die benötigten konditionellen Eigenschaften oder die besonders eingesetzten Muskelgruppen sich mit jeder Kampfsituation verändern. Und anders als bei Turnern oder Schwerathleten unterliegen die eigenen Aktionen der direkten gegnerischen Beeinflussung, was große Ansprüche an das technische und taktische Repertoire stellt.
Über Leistungssport
Als Leistungssport richtig anerkannt sind eigentlich nur Sportarten, die bei den Olympischen Spielen vertreten sind. Davon ist Ju-Jutsu noch weit entfernt, wo es doch erst seit relativ kurzer Zeit möglich ist, sich in internationalem Vergleich zu messen. Aus diesem Grund ist auch das Interesse der Medien an dieser Sportart verschwindend gering. So bleibt die Frage, ob wir zurecht von einem Ju-Jutsu als Leistungssport sprechen dürfen.
Dafür müssen wir zunächst klären, was Leistung ist. Die Physik definiert Leistung als Arbeit pro Zeiteinheit. Damit ergibt sich eine meßbare Größe. Schwieriger ist es die Leistung bei nicht meßbaren Ereignissen zu bestimmen. Die Leistung eines Klavierspielers in Anschlägen pro Minute auszudrücken, würde seinen Fähigkeiten nicht gerecht. Ähnlich verhält es sich mit Sportarten, in denen der Erfolg ganz oder zum Teil von nicht-meßbaren Größen bestimmt wird. Dies ist am deutlichsten im Tanzsport, beim Eiskunstlauf oder beim Kunstturnen. Auch in den Kampfsportarten gehen solche nicht zu messenden Faktoren in die Bewertung ein, im Ju-Jutsu z.B. bei der Frage, ob ein Wurf aufgrund einer deutlichen Technik zustande kam, oder ob ein Fauststoß zum Kopf als Treffer zu zählen ist oder nicht. Um diese nicht-physikalischen Größen dennoch zu objektivieren, werden künstliche Kriterien geschaffen, die die Leistung bestimmen sollen, etwa die Dynamik einer Technikausführung. Letztendlich wird hier der Leistungsbegriff mit einem Qualitätsbegriff gleichgesetzt. Anders als etwa die kaum anzufechtende Reihenfolge der Zieleinläufe bei einem 100-Meter-Lauf ist eine von qualitativen Faktoren bestimmte Leistung immer abhängig von der Position der Beteiligten (Kämpfer, Kampfrichter, Coach, Zuschauer) zur sportlichen Handlung. Eine Perversion der Leistungsbewertung fand anläßlich des 50&xnbsp;km-Gehens bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 1991 in Tokio statt. Die beiden schnellsten Läufer, Andrej Perlow und Aleksandr Potaschow, kamen Arm in Arm ins Ziel, um zu demonstrieren, daß über diese Distanz Differenzen von wenigen Sekunden beim Zieleinlauf nicht den Unterschied zwischen den Plazierungen ausmachen. Doch das Kampfgericht glaubte anhand des Zielfotos einen ersten und einen zweiten Sieger bestimmen zu müssen. Vielleicht ist es ein Beweis dafür, daß bei den Nicht-Aktiven die Ergebnisorientierung stärker ausgeprägt ist als bei den aktiven Sportlern.
Sport ist eine scheinbar einfach zu definierende Beschäftigung. Scheinbar einfach ist dieser Versuch, weil wir in der Regel eine feste Vorstellung davon haben, was eine sportliche Tätigkeit ist. Was aber die Begriffsbestimmung schwer macht, ist die Abgrenzung von "Sport" und "Spiel". Sport ist eine Tätigkeit, bei der mehrere Parteien nach bestimmten, vorher festgelegten Regeln gegeneinander antreten, um nach sportartabhängigen Kriterien einen Besten zu bestimmen.
Diese Definition trifft auch auf das Spiel zu. Was Spiel und Sport unterscheidet, ist die Tatsache, daß im Spiel die Ergebnisorientierung nicht so stark ausgeprägt ist wie im Sport. Ein Spiel lebt von dem Miteinander der gegnerischen Parteien, während im Sport allein das Endergebnis zählt. Aus diesem Grund werden im Sport taktische Mittel eingesetzt, um den Gegner zu bezwingen. Ein Spiel dagegen ist frei von Taktik. Es wird jedem einsichtlich sein, daß sich ein Fußball-"Spiel" zwischen einer Gruppe von Hobby-Kickern, die sich einmal in der Woche im Stadtpark treffen, in der Zielsetzung und im Kampfgeist deutlich vom Fußball-"Sport" der Bundesliga unterscheidet.
Wenn wir jetzt versuchen, den Begriff der "Leistung" und den Begriff des "Sports" zu einem Begriff "Leistungssport" zusammenfassen, ergibt sich daraus, daß im Leistungssport Einzelpersonen oder Mannschaften nach einem Regelwerk um eine Rangordnung streiten, die sich durch eine Bewertung der sportlichen Handlung durch Dritte ergibt.
In der Wettkampfform des Ju-Jutsu wird dieses Kriterium erfüllt, und somit ist es in diesem Fall gerechtfertigt, den Ju-Jutsu-Wettkampf als Leistungssport zu bezeichnen.
Oftmals wird zwischen Leistungs- und Breitensport eine Konkurrenz gesehen. Dieser Konkurrenzgedanke beruht auf der unterschiedlichen Zielsetzung der beiden Weisen, einen Sport auszuüben. Während nach obigen Definitionen der Breitensport eher Spielcharakter hat, ist der Leistungssport eher sportlich orientiert. Breitensport dient eher der Prophylaxe von Zivilisationskrankheiten, die ihre Ursache in weitverbreitetem Bewegungsmangel haben.
Leistungssport dagegen hat vorrangig die Aufgabe, den Verein, den Verband, die Nation zu repräsentieren und deren, sowie das eigene Ansehen zu stärken. Von Kritikern des Leistungssports wird gerne angeführt, daß ein geringer Teil von leistungsorientiert Sporttreibenden die Masse der finanziellen Mittel für sich verwendet. Dieses Argument ist aber nicht haltbar, da andererseits der Leistungssport finanzielle Zuwendungen erhält, die dem Sport insgesamt sonst fehlen würden. Und genauso wie dem aus gesundheitlichen und sozialen Gründen Sporttreibenden dazu im Breitensport die Gelegenheit gegeben wird, muß auch der an sportlicher Leistung Interessierte die Möglichkeit haben, eine solche Tätigkeit auszuüben. Und ebenso wie die Masse der durchschnittlich talentierten Sportler ihre Erfolgserlebnisse haben, müssen auch überdurchschnittlich Begabte ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten optimal ausbilden können. Dazu ist aber unter anderem der Konkurrenzdruck eines Wettkampfes notwendig.
Und nicht vergessen sollte man, daß Wettkampferfolge die beste Werbung für den Verein und die Sportart sind, weil sich allein aus gesundheitlichen Gründen kaum ein Mensch dazu bewegen läßt, ernsthaft eine bestimmte Sportart zu treiben.
Und weil die persönliche Nähe zu einem Spitzensportler vor Ort eher zum aktiven Nacheifern anregt als das abstrakte Vorbild im Fernsehen, sollte jedes Mitglied eines Sportvereines Interesse daran haben, aus seiner Mitte Sportler auszubilden, die überdurchschnittliche Leistung zeigen. Ziel des Leistungssports ist primär der Erfolg bei (den Fähigkeiten des jeweiligen Sportlers entsprechenden) mehr oder weniger bedeutenden Wettkämpfen. Wenn Leistungssport aber nicht persönlichkeitszerstörend ausgeführt wird, fordert sportliche Höchstleistung den Athleten nicht nur im körperlichen Bereich. Sie kann auch seine Persönlichkeit bilden und helfen, sie überhaupt zu erkennen, weil ein optimal ausgebildeter Athlet nicht nur seine sportlichen, sondern auch seine menschlichen Stärken und Schwächen kennen sollte.